Le Mystère Picasso (1955) ist ein Dokumentarfilm des französischen Regisseurs Henri-Georges Clouzot. Er zeigt Pablo Picasso, der vor laufender Kamera 20 Bilder auf transparente Träger malt; von schwarz-weißen Zeichnungen bis hin zu aufwendigen, farbigen Gemälden. Mit Hilfe von Stop-Motion-Animationen entstehen die Bilder vor den Augen des Zuschauers und verschwinden ebenso schnell wieder, wenn Picasso sie übermalt oder nach wenigen Minuten mit einem neuen Bild beginnt. Zuweilen schwenkt die Kamera auch auf den Künstler selbst, der, in seine Arbeit versunken, das Umfeld und den anwesenden Regisseur auszublenden scheint. Konzentriert widmet er sich dem Zeichenprozess und selbst als Clouzot ihn in zwei Szenen gegen die Zeit anmalen lässt, gerät er scheinbar kaum aus der Ruhe.
Le Mystère Picasso ist durch Strategien gelenkt, die bestimmte kulturelle Vorstellungen abbilden und ein Werkverständnis offenlegen, das besonderen Wert auf den künstlerischen Schaffensprozess und die Gemachtheit seiner Produkte legt. Um diesen künstlerischen Schaffensprozess für sich sprechen zu lassen, verzichtet der Film größtenteils auf einen kommentierenden Sprecher und versucht, den Zuschauer zum unmittelbaren Zeugen von Picassos Erfindungsgabe, von seiner dynamischen Pinselführung und Farbauswahl zu machen. Dabei spielt der Film mit der Exklusivität der Situation, bleibt der Blick auf den künstlerischen Produktionsprozess doch meist nur wenigen Personen vorbehalten (vgl. Schrödl 91).
In Clouzots Film kommt der Zuschauer der Arbeitsweise Picassos tatsächlich sehr nahe, doch recht schnell wird deutlich, dass der Eindruck einer unmittelbaren Teilhabe trügt. Schon die mediale (filmische) Vermittlungsebene steht zwischen der Arbeit mit Stift und Farbe und dem gefilterten Bild, das der Beobachter durch das Kameraauge präsentiert bekommt. So deutlich sie ihm auch die Bildfindung vor Augen führt, so mysteriös bleiben die intellektuellen Voraussetzungen von Picassos Arbeit, seine Vorbilder und Ziele. Laut Brian O’Doherty erscheint es daher nur allzu passend, dass Clouzot den Titel Le Mystère Picasso gewählt hat, denn sein Film liefert eher „ein Bild, das den Mythos von einem Künstler malt.“ (146)
Der Film geht deutlich über eine objektive Aufzeichnung der Abläufe hinaus und setzt seine Mittel so ein, dass Pausen ausbleiben und der kreative Vorgang – nicht zuletzt durch den Einsatz von Musik – rhythmisiert und dramatisiert wird. Die Werke entstehen scheinbar aus dem Nichts heraus, sie bedürfen keiner Vorlage und entspringen unvermittelt dem künstlerischen Geiste. Diesem Künstlerbild spielen auch Picassos meisterhafte Gebärden zu, seine stille Konzentration und souveräne Dynamik. Tatsächlich inszeniert der Film den Künstler als Genie, das trotz einiger Selbstkorrekturen unbeirrt dem finalen Werk entgegenarbeitet. Bezeichnend für dieses Künstlerbild ist auch, dass Picasso nicht etwa in einem privaten Kontext, sondern in einem Filmstudio gezeigt wird. Dieses behauptet zwar die Intimität eines Ateliers, betont aber vor allem die Unabhängigkeit Picassos von seiner äußeren Umgebung: Gleichsam zeitlos und ortsungebunden betreibt Picasso seine Kunst, die ihm unter jeder Bedingung möglich scheint.
Mit Le Mystère Picasso bedient der Kinoregisseur Clouzot das Interesse an einem massentauglichen Kinofilm, der ein authentisches Making-of der Werke Picassos bieten und einen Blick in seine Arbeitsweise ermöglichen soll. Dabei wird jedoch deutlich, dass er mythische Vorstellungen der künstlerischen Produktion reinszeniert, „die im Kunstdiskurs zirkulierend den Filmen vorausgehen, sich in diesen niederschlagen und als ästhetische Konkretisationen wiederum auf diese zurückwirken“ (Schrödl 100).