Making-of
Ein Lexikon

Making-of. Ein Lexikon versammelt Texte zum Begriff Making-of. Die Online-Plattform wurde von Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften initiiert. Sie widmet sich der Erforschung verschiedenster Making-of-Formate in der Gegenwartskultur und kann um neue Begriffe und Texte erweitert werden.

weiterlesen

Fragment

Ein Fragment (von lat. ‚fragmentum‘, ,Bruchstück’, ,Splitter’, ,Überbleibsel’) bezeichnet Werke der Literatur und Kunst, die in ihrer „ideellen Struktur eine Unterbrechung aufweisen“ (Ostermann 1996, 455). Dabei verweist der Begriff immer auf eine abwesende Ganzheit, auch wenn er zuweilen die Idee einer möglichen Totalität negiert. Die Theorie des Fragments hat im Laufe ihrer Geschichte viele Veränderungen und Weiterentwicklungen erfahren, die für eine Diskussion des Making-ofs bedeutsame Fragen aufwerfen „nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, nach der Wahrheit oder Unwahrheit eines ganzheitlichen und geschlossenen Kunstwerks“ (Ostermann 1991, 14f.).

Sowohl unvollständig überlieferte als auch unvollendete Werke werden als Fragment bezeichnet. Bei Letzteren kann zwischen solchen Werken unterschieden werden, die aufgrund von äußeren Umständen unvollständig geblieben sind, z.B. Goethes Urfaust (1772-75), und jenen, die absichtlich nicht vollendet wurden. Der bewusste Einsatz fragmentarischer Strukturen nutzt die Unvollständigkeit als konstitutives Element. Die resultierenden Phänomene reichen vom absichtlich unvollendeten Roman bis zu jenen Werken der Moderne, die sich innerhalb eines offenen und unabschließbaren Produktions- und Rezeptionsprozesses verorten, wie etwa James Joyces Finnegans Wake (1923-39).

Wichtige Grundlage für die Diskussion ist der aristotelische Begriff der ‚Definition’, der „das Besondere unter das Allgemeine subsumiert und es darin integriert“ (Dällenbach 7). In der Antike kennt man daher die Bezeichnung ‚Fragment’ für unvollendete Werke nicht, sehen sich die Künste doch grundsätzlich einer Ganzheit verpflichtet, die als ästhetische Kategorie bis in die Frühe Neuzeit das Unvollendete wertlos macht. So heißt es in Thomas von Aquins Summa Theologica (1265-73): „Die Dinge nämlich, die verstümmelt sind, sind schon deshalb häßlich“ (zit. nach Ostermann 1996, 458). Erst im 18. Jahrhundert wird das Fragment als eigenständige Gattungsform eingeführt. Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder leiten einen entschiedenen Perspektivwechsel ein, der bewusst unvollständige Texte fördert und entgegen einer als überholt und unnatürlich wahrgenommenen Ganzheitsästhetik das „unverfälscht Emotionale“ (Ostermann 1996, 459) im Fragment betont. Auch das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem wird neu bestimmt, was zu einer Emanzipation des Fragmentarischen gegenüber seiner potenziellen Vervollkommnung führt.

In der Bildenden Kunst ist es vor allem Johann Joachim Winckelmann, der in seiner Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom (1759) das fragmentarische Torsomotiv zum Ideal erhebt. Damit macht er den Weg für zukünftige Abstraktionstendenzen frei, allen voran bei Auguste Rodin, mit dem sich die fragmentarische Skulptur als vollendetes Werk durchsetzt (vgl. Bennert 301). Auch in der Malerei favorisiert man immer mehr fragmentarisierte Formen und Körper, die vor allem durch die Impressionisten zur Metapher der Moderne werden (vgl. Nochlin 24).

In Deutschland geht mit den Weltkriegen immer mehr der Glaube an die Möglichkeit einer Gesamtheit verloren; Theodor W. Adornos Ausspruch „Das Ganze ist das Unwahre“ (zit. nach Sorg / Würffel 7) wird zum Kernsatz eines weit verbreiteten Zeitempfindens. Angesichts der Erlebnisse des Holocaust und des „Trümmerhaufens der Geschichte“ (Würffel 132) erscheint jedes Totalitätsversprechen obsolet; nahezu alle Avantgardebewegungen der Moderne negieren die Ganzheitsansprüche des vergangenen Jahrhunderts und werten die Form des Fragments auf. Künstlerische Formate wie Collagen und Montagen sowie die sprachliche und semantische Offenheit moderner Literatur betonen das Bruchstück in einer widersprüchlichen Welt stärker als die Idee eines ästhetischen Ganzen (vgl. Würffel 130). Diese Ideen bleiben bis heute erhalten und spiegeln sich beispielsweise in den aufgelösten Handlungsmodellen des postmodernen Theaters, das eine geschlossene, organische Form verweigert.

Für das Making-of bleibt festzuhalten, dass Totalität seit der Romantik als grundsätzlich nicht verfügbar und daher nicht darstellbar gilt. Obwohl das Fragment die Idee der Ganzheit immer mitdenkt und sich nur in Verhältnis zu ihr definieren lässt, hinterfragt es gleichzeitig ihre Bedingungen. Die Tendenz zur Fragmentarisierung beinhaltet damit ein Misstrauen gegenüber dem Vollendeten, dem endgültig Fertigen. Die vormals unantastbare Idee des Werkganzen fällt schon im 18. Jahrhundert auf die Stufe eines „Durchgangsstadiums für den sich historisch entfaltenden Sinn“ (Ostermann 1996, 459) zurück. Ähnlich zeigen auch Making-of-Formate auf, dass sich jedes vermeintlich ‚fertige’ Werk in einem unendlichen Kontext von Produktion und Rezeption befindet und erst hier überhaupt vervollkommnet werden kann. Damit ist jedes Produkt zunächst Fragment, alles fertig Geglaubte unfertig und der Wert eines Werkes nicht am vermeintlichen Endprodukt zu bestimmen. So gedacht, verliert das Making-of seine existentielle Abhängigkeit von einem (vollendeten) Werk endgültig und wird zum medialen Zeichen einer Generation ununterbrochener Machensprozesse.

Quellen

Bennert, Uwe: „Bemerkungen zur Problematik des Fragmentarischen im ‚musealen‘ Kontext vor Rodin.“ In: Arlette Camion et al. (Hg.): Über das Fragment – Du fragment. Heidelberg 1999, S. 301-315.

Dällenbach, Lucien: „Vorwort.“ In: Ders. et al. (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt/Main 1984, S. 7-17.

Nochlin, Linda: The Body in Pieces. The Fragment as a Metaphor of Modernity. London 2001.

Ostermann, Eberhard: „Fragment.“ In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 454-464.

Ostermann, Eberhard: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991.

Sorg, Reto / Stefan Bodo Würffel: „Vorwort.“ In: Dies. (Hg.): Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. München 2006, S. 7-10.

Würffel, Stefan Bodo: „,Den Trümmern allein trau ich was zu…‘: Zur Kritik des Gesamtkunstwerks.“ In: Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. München 2006, S. 117-132.