Making-of
Ein Lexikon

Making-of. Ein Lexikon versammelt Texte zum Begriff Making-of. Die Online-Plattform wurde von Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften initiiert. Sie widmet sich der Erforschung verschiedenster Making-of-Formate in der Gegenwartskultur und kann um neue Begriffe und Texte erweitert werden.

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Geschichte wird gemacht

Die Vorstellung, dass Geschichte ästhetischen und sozialen Konstruktionsprozessen unterliegt, ist ein allgegenwärtiger Topos nicht nur in den Künsten, den Medien und der Populären Kultur geworden, sondern ist auch in der Geschichtswissenschaft selbst angekommen. Geschichte wird gemacht und ihr Gemacht-Sein wird reflexiv ausgestellt: in theatralen Formen wie dem Re-enactment, in medialen und musealen Inszenierungen der Figur des Zeitzeugen oder in populären Eingriffen in kanonisierte Geschichtsbilder in Form von Mocumentaries.

Damit jene Formen des Making-ofs von Geschichte entstehen konnten, ist es ideengeschichtlich entscheidend gewesen, dass der Kollektivsingular Geschichte als Material und als Form aus dem Kontinuum des Zeitverlaufs herausgelöst wurde. Als Material wird Geschichte verfügbar, als Form wird sie erzählbar. Hierfür setzt Immanuel Kants Begriff des Geschichtszeichens von 1798 die Voraussetzungen. Ein Geschichtszeichen bezeichnet Ereignisse in der Geschichte, die als Zeichen für eine dynamische und progressive Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaften verstanden werden können. Kant entwickelt seine Idee des Geschichtszeichens am Beispiel der Französischen Revolution. Geschichtszeichen sind somit Zeichen für historischen Fortschritt; für ein „Fortschreiten zum Besseren“ (Kant, Abschnitt 7). Damit ist aber auch gesagt, dass Geschichte erstens ein offener Prozess ist und zweitens vom Menschen gemacht wird; die einzelnen Subjekte wie auch die Gattung kommen als Akteure einer sich zum Besseren entwickelnden Geschichte in den Blick.

Dabei ist entscheidend, dass der Begriff des Geschichtszeichens auf einer Trennung von Ereignis und Betrachter aufbaut. Erst die Tatsache, dass wir einem geschichtlichen Ereignis wie der Französischen Revolution nicht beiwohnen – wohl aber in der Distanz der Betrachtung „eine Theilnehmung dem Wunsche nach“ (ebd. Abschnitt 6) empfinden –, lässt es als ein Zeichen für den historischen Fortschritt erkennbar und relevant werden. Erst durch die Einbindung der Perspektive des (medialen) Publikums können wir davon sprechen, dass Geschichte gemacht wird.

Durch die Voraussetzung einer Distanz von Ereignis und Betrachter öffnet sich ein Spielraum für Medien und Narrative, für Vermittlungsformen und das Erzählen von Geschichte. Entscheidend für eine – natürlich nicht ungebrochene – Fortschreibung des kantischen Geschichtszeichens sind die Analytische Philosophie der Geschichte von Arthur C. Danto (1965) sowie das Konzept der ,Metahistory‘ von Hayden White (1973). Danto arbeitet den Zusammenhang zwischen einer historischen Erklärung und ihrer spezifischen Erzählung heraus und macht deutlich, dass plausible Erzählungen zu plausiblen Erklärungen führen bzw. verleiten. White konzentriert sich auf die narrative Beschaffenheit von historiographischen Texten. Die Geschichtsschreibung wird von ihm als literarische Gattung analysiert; somit kommen Fragen wie nach der Präsenz des Erzählers in historiographischen Texten (bzw. seiner Unsichtbarkeit) in den Blick.

Damit sind die gedanklichen Grundlagen gelegt, das grundsätzliche Gemacht-Sein und das spezifische Geformt-Sein von Geschichte in ästhetischen Formaten selbst auszustellen. Re-enactments bilden dabei eine Form des klassischen Making-ofs, indem sie (welt-)historische Begebenheiten als gleichzeitig faktisch Geschehenes und performativ Angeeignetes zeigen. Die Präsenz der Zuschauer wie auch die offene Landschaftsbühnensituation führen zu einer autopoietischen Feedbackschleife, die die Betrachter des Re-enactments zu Teilnehmern der Geschichte wie auch zu Teilnehmern an der Herstellung von Geschichte macht.

Weil historische Ereignisse heute aber primär als visuelle Zeichen wahrgenommen werden, finden sich auch die Formen des Making-ofs vermehrt in der technischen und digitalen Bildkultur. So haben die Einführung von The History Channel wie auch die Etablierung von Geschichtszeitschriften zu einer Popularisierung der Vermittlung von Geschichte beigetragen und dabei nicht zuletzt die Narrative der Geschichtserzählung durch Formen wie Vergrößerung und Wiederholung, Serialisierung und Verdichtung erweitert, wie übergreifend die erklärenden Plotstrukturen durch jene Formate emotionalisiert und individualisiert wurden. Aber auch Mockumentaries können als Formate verstanden werden, die auf das Gemacht-Sein von Geschichte hinweisen, indem sie sich an massenmedialen Geschichtsbildern abarbeiten. In dieser Perspektive sind Mockumentaries unterhaltsame und/oder subversive Paratexte zu visuellen Referenztexten, die sie in ihrer (oft spekulativen) Wirkungsästhetik aus- und bloßstellen.

Schließlich generieren Geschichtszeichen gegenwärtig neue Akteure der Geschichtsvermittlung und Geschichtsinszenierung. Eine der hervorstechendsten Figuren ist dabei der Zeitzeuge. Jener steht zwischen kanonisierter Geschichte und individuellen Geschichten und ist seit seinem Auftritt im Prozess gegen Adolf Eichmann von 1961 eine mediale Figur. Annette Wieviorka (2006) hat gezeigt, dass der Begriff und die gesellschaftliche Anerkennung der Figur des Zeitzeugen erst im Verlauf der täglichen Live-Übertragung des Eichmann Prozesses entstanden sind. Entscheidend für die aktuelle Popularisierung der Figur des Zeitzeugen in Dokumentationen oder Docufictions, im musealen Kontext oder als Live-Performer ist die Tatsache, dass die Frage, wie Geschichte gemacht wird, in der Figur des Zeitzeugen in ihrer Dialektik zur Anschauung kommt: Geschichte in ihrer modernen Fassung wird von dem Einen und von den Vielen gemacht. Das ‚Selbst‘ kommt zu einem Verständnis seines Selbst in der Anschauung vergangenen Geschehens – doch die Erkenntnis einer eigenen Geschichte hat zur Voraussetzung, dass Geschichte seit dem 18. Jahrhundert als Menschheitsgeschichte imaginiert wird. Der Einzelne macht nur dann Geschichte, wenn er beobachtet und darstellt, dass die Menschheit Geschichte macht. Formate des retrospektiven wie des simultanen Making-ofs haben entsprechend auch die Figur des Zeitzeugen reflexiv durchdrungen: Im Erzählen von Geschichte beobachten wir an uns selbst und an anderen, dass und wie wir Geschichte konstruieren.

Quellen

Danto, Arthur C.: Analytical Philosophy of History. London 1965.

Kant, Immanuel: Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten. Königsberg 1798.

White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973.

Wieviorka, Annette: „The Witness in History.“ In: Poetics Today 27.2 (2006), S. 385-397.