1963 gedreht, zählt Haircut (No. 1) zu den frühen Stummfilmen Andy Warhols. Zu sehen sind vier Männer in einem Loft, von denen einer dem augenscheinlich Jüngsten unter ihnen das Haar schneidet. Der Film lässt sich demnach als Toilettenszene einordnen, wird hier doch vor laufender Kamera dem Zeitgeschmack – oder besser: den Schönheitsvorstellungen einer bestimmten soziokulturellen Gruppe – entsprechend Männerschönheit hergestellt. Darüber hinaus lässt sich die nur vordergründig belanglose Alltagshandlung als metaphorische Umschreibung einer homosexuellen Mannwerdung und damit als Making-of einer schwulen Identität verstehen.
Haircut (No. 1) wirkt von Beginn an erotisch aufgeladen. Zunächst scheint dies allerdings weniger dem titelgebenden Sujet als vielmehr dem Auftreten Freddy Herkos geschuldet: In der ersten Einstellung posiert der Tänzer mit entblößtem Oberkörper in der linken Hälfte des Kaders. Durch seine enge weiße Jeans zeichnet sich sein Geschlecht deutlich ab. Nach etwa zwei Minuten dreht sich Herko um, geht wiegenden Schrittes nach hinten – präsentiert also Rücken und Gesäß – und blickt noch einmal aufreizend über die Schulter, bevor er sich ins Halbdunkel begibt. Unterstrichen wird das Verführerische dieses Tuns (Krüger 153f.) durch den am rechten unteren Bildrand sitzenden Billy Name, der in alttestamentarischer Manier (1. Mose 3,6) einen Apfel isst.
In den folgenden Einstellungen ändert sich die Position Herkos vor allem insofern, als er zwar weiterhin die Blicke auf sich lenkt, zugleich aber den eigenen Blick auf eine dritte Person richtet: Übereinstimmend mit den Darstellungskonventionen von Beefcake-Magazinen nun bis auf einen Cowboyhut unbekleidet (Hooven 40, 115), beobachtet er, wie Name dem im Vordergrund sitzenden John Daley das Haar kürzt. Herko fixiert Daley sichtlich angetan, befeuchtet seine Lippen, bewegt genüsslich eine Pfeife im Mund vor und zurück – verleiht seinem sexuellen Verlangen also unmissverständlichen Ausdruck. Aus der Kameraperspektive wiederum verdeckt der sich hebende und senkende Arm Names Partien Herkos (etwa das Gesicht) und gibt im Gegenzug andere (wie die Brust) frei, wodurch das Ausgestelltsein des athletischen behaarten Körpers noch augenfälliger wird.
Dass Haircut (No. 1) nicht nur homosexuelles Verlangen artikuliert, sondern vielleicht auch das gleichsam rituelle Making-of einer klar umrissenen schwulen Identität zelebriert, verdeutlicht die Anbindbarkeit des vorgeblich alltäglichen Geschehens an die antike Tradition, durch das öffentliche – also wie im Film vor Zeugen stattfindende – Abschneiden (und Deponieren) des Haars den Eintritt in eine neue Lebensphase zu markieren. Bei der depositio crinium handelte es sich um ein Übergangsritual, bei dem unter anderem der zwischen Männern unterschiedlichen Alters übliche Geschlechtsverkehr (genauer: die Rollenzuweisung bei der Pedicatio) neu geregelt wurde, denn seinerzeit hieß vom Jüngling zum Mann zu reifen auch, vom passiven zum aktiven Liebhaber zu werden. Dementsprechend war das Ritual erotisch konnotiert (Obermayer 103-114). Auf Warhols Film zurückgewendet ließe sich das Haareschneiden also dahingehend deuten, dass Daley in den Kreis der reiferen Männer aufgenommen wird, was wohl eine Veränderung der bis dahin gelebten sexuellen Praxis einschließt.
Wesentlich scheint zudem, dass mehr noch als der Blick Herkos die Anwesenheit der Kamera jene Öffentlichkeit garantiert, die das Ritual braucht, um wirksam zu werden (Braungart 106f.). Dass sich alle vier Männer zum Schluss ostentativ die Augen reiben, verleiht der Szene etwas Spielerisches (Grundmann 79) oder Traumhaftes (Murphy 23), mag im Rahmen der hier vorgeschlagenen Lesart aber auch das Ende des Rituals, also die Rückkehr in die Realität anzeigen. Gleichzeitig reflektiert das Augenreiben den Produktionsprozess des Films selbst, haben die Protagonisten für die letzte Einstellung doch minutenlang nicht nur in die Kamera, sondern auch in das für die Aufzeichnung notwendige Scheinwerferlicht gestarrt.