Making-of
Ein Lexikon

Making-of. Ein Lexikon versammelt Texte zum Begriff Making-of. Die Online-Plattform wurde von Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften initiiert. Sie widmet sich der Erforschung verschiedenster Making-of-Formate in der Gegenwartskultur und kann um neue Begriffe und Texte erweitert werden.

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Komplementarität

Der Begriff Komplementarität wurde 1927 von Niels Bohr in die Quantenphysik eingeführt und seither auf viele andere Wissensgebiete übertragen, wobei er mit je eigenen, zum Teil differierenden Bedeutungshorizonten belegt wird (vgl. Fischer; Meyer-Abich; Röhrle). Als immer wiederkehrender Grundgedanke kann dabei festgehalten werden, dass zwei scheinbar widersprüchliche und einander ausschließende Größen dergestalt voneinander abhängen, einander ergänzen oder gegenseitig aufeinander bezogen sind, dass sie nur gemeinsam ein Drittes oder Ganzes ergeben. Hieran anknüpfend lassen sich ein Artefakt und sein Making-of dann als komplementär beschreiben, wenn sie nicht nur einseitig dependent, sondern – etwa aufgrund von Strukturgleichheiten – ineinander verschränkt sind. Anders als das auf Genette zurückgehende Konzept des Paratexts betont der Terminus Komplementarität demnach die Wechselseitigkeit des Verhältnisses zwischen einem Making-of und jenem Gegenstand, dessen Herstellung es (vermeintlich) zur Anschauung bringt.

Wie dieses Wechselverhältnis im konkreten Einzelfall aussehen kann, lässt sich exemplarisch an je einer Sequenz aus Mauricio Kagels Ludwig van. Ein Bericht (1970) und Wilhelm Flues’ Kagels Beethoven. Bericht über Ludwig van (1970) erläutern, die hier beide unter dem Titel Beethovens Küche geführt werden: Zur Realisierung der dreieinhalb Minuten langen Küchensequenz aus Ludwig van arbeitete Kagel mit dem Bildhauer und Aktionskünstler Joseph Beuys zusammen. Begleitet vom ersten Satz aus Beethovens 9. Sinfonie, beginnt die Einstellungsfolge mit der Aufnahme eines brennenden Gullys, wobei die Flammen synchron zum Auf- und Abschwellen der Musik lodern. Nach einem unvermittelten Schnitt liegt dem Gully ein ovaler Topfdeckel auf, das Feuer ist gelöscht. Die folgenden Einstellungen zeigen das Innere des zuweilen tatsächlich als Küche genutzten Ateliers von Beuys, welches er mit Kagel für die Dreharbeiten umgestaltete und das innerhalb der Narration von Ludwig van für die Küche Beethovens einsteht: Der Deckel hat den passenden Topf gefunden. Die Kasserolle ist auf einer einflammigen Kochgelegenheit, diese auf einem Herd, jener mit den vorderen Beinen in einem Kinderbett platziert. Dahinter lehnen drei Hornobjekte an der Wand. Weitere Objekte und Gegenstände wie eine Schallplatte, schweres Werkzeug oder die sorgsam gestapelten Scherben eines Blumentopfs sind ebenfalls angelehnt oder in einer Vitrine arrangiert, liegen auf dem Boden herum oder werden von den behandschuhten Händen eines Museumswärters präsentiert. Ein letzter Schnitt, zu dem ein lautes Röcheln eingespielt wird, das die bis dahin durchgängig zu hörende Musik verstummen lässt, lenkt den Blick in Richtung Fenster. Vor diesem tritt von rechts Beuys auf, der sein Gesicht hinter einer Gipsmaske verbirgt, ÖÖ-Laute ausstößt und wieder nach rechts abgeht.

Diese Sequenz unterscheidet sich deutlich von der in ihrem retrospektiven Making-of ‚angekündigten‘ oder ‚in Aussicht gestellten‘ Küchenszene, und zwar sowohl akustisch als auch visuell: Zwar sind die Hornobjekte schon in Kagels Beethoven zu sehen, die von Beuys vorgeschlagene Überlagerung zweier verschiedener Zeitebenen jedoch wird nicht realisiert, der von einem ostentativ ins Bild gestellten Mikrofon aufgezeichnete Originalton durch das Einspielen klassischer Musik, des Röchelns und der ÖÖ-Laute ersetzt. Wichtiger noch scheint allerdings, dass die Objekte und temporären Installationen um die beiden Aktionen Brennender Gully und Totenmaske Napoleons erweitert wurden (vgl. Schneede 380). Zwar lassen sich derartige Aufführungen – das Lodern aus dem Bodenablauf, das Auftreten mit dem Gipsgesicht – vorab konzipieren und proben. Trotzdem können sie nicht im gleichen Sinne erst vorbereitet und dann abgefilmt werden wie die für den Dreh angeordneten Gegenstände, weil sowohl die Flammen als auch der Aktionskünstler im Moment der Aufnahme zu ‚liefern‘ haben: Wenn die Kamera läuft, muss das Feuer flackern und muss Beuys seinen Einsatz finden, das Tempo halten, die Stimme im rechten Moment und auf die richtige Weise erklingen lassen usw.

Ins Allgemeine gewendet heißt dies: Genau wie das Making-of nicht nur die Entstehung eines Films zeigt, sondern zugleich selbst einen eigenständigen Film generiert (und dies auch ausstellt), so ist hier umgekehrt dem Film sein eigenes Making-of insofern eingeschrieben, als die Aktionen Brennender Gully und Totenmaske Napoleons (und auch der Auftritt des Museumswärters) nicht für oder im Hinblick auf, sondern allein und ausschließlich während ihrer Aufzeichnung entstanden. In diesem Sinne erschöpft sich das Verhältnis, in welchem Ludwig van und Kagels Beethoven stehen, nicht in einem Davor und Danach, sondern ist auch als komplementär zu beschreiben – wobei bemerkenswert ist, dass sich die Komplementarität im Fall der hier exemplarisch besprochenen Beispiele sogar im Formalen niederschlägt, sind doch beide Sequenzen in drei klar voneinander geschiedene Teile gegliedert, deren mittlerer dort der längste, hier der kürzeste ist.

Quellen

Fischer, Ernst Peter: „Definitionen der Komplementarität.“ In: Ders. et al. (Hg.): Widersprüchliche Wirklichkeit. Neues Denken in Wissenschaft und Alltag. München / Zürich 1992, S. 18-28.

Kagels Beethoven. Bericht über Ludwig van. WDR, Erstausstrahlung: 8. Dezember 1970, Regie: Wilhelm Flues.

Ludwig van. Ein Bericht. WDR, Erstausstrahlung: 1. Juni 1970, Regie: Mauricio Kagel.

Meyer-Abich, Klaus Michael: „Komplementarität.“ In: Jochen Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 933-934.

Röhrle, Erich A.: Komplementarität und Erkenntnis: Von der Physik zur Philosophie. Münster et al. 2001.

Schneede, Uwe M.: Joseph Beuys: Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994.