Making-of
Ein Lexikon

Making-of. Ein Lexikon versammelt Texte zum Begriff Making-of. Die Online-Plattform wurde von Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften initiiert. Sie widmet sich der Erforschung verschiedenster Making-of-Formate in der Gegenwartskultur und kann um neue Begriffe und Texte erweitert werden.

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Making-of self im (auto-)biografischen Dokumentarfilm

Unter Bezugnahme auf die ‚performance studies‘, die den Performance-Begriff über die Künste hinaus für die Beschreibung von Alltagsphänomenen geöffnet haben (vgl. Bial 5f.), lässt sich auch der Auftritt von Akteuren im Dokumentarfilm als performative Situation analysieren. Die Inszenierung des Selbst, das narrative Selbst oder Ego, wie es in der Soziologie und Erzähltheorie genannt wird (vgl. Kauppert 152-154), beschreibt die Notwendigkeit des ,Making-of self‘ (vgl. Eakin 99-141), welches sowohl den Herstellungsprozess als auch die Existenz der eigenen Identität thematisiert. Dabei wird die Dramaturgie der autobiografischen Filme zumeist als Grundlage für ein →simultanes Making-of der Personen genutzt. Selbstentwürfe im Dokumentarfilm diskursivieren, reflektieren und stellen zeitgleich diesen Prozess der selbstreferenziellen Identitätsbildung, das Making-of von Person (als Selbstdarstellung) und Autobiografie (als Selbstbeschreibung), für ein Publikum aus. Die hochgradig reflexive Wahrnehmung und Verhaltensweise von Personen in sozialen Kontexten, was den eigenen Körper, die Situation, Kultur und Identität angeht, wird durch die Präsenz der Kamera verstärkt. So betrachtet sind Dokumentarfilme stets „a negotiation between filmmaker and reality and, at heart, a performance“ (Bruzzi 186).

Filmemacher wie Ross McElwee oder Alan Berliner nutzen in Time Indefinite (1993) und Nobody‘s Business (1996) ihr familiäres Umfeld und einen reflexiven Off-Kommentar, um den Rezipierenden einen Einblick in die Selbstbeobachtung zu gewähren. Dieser ‚Blick hinter die Bühne‘ in die individualpsychologische Maschine des Subjekts (hierbei synonym mit der Maschinerie der Produktionsprozesse) wird als inszenierte Transparenz umgesetzt. Ein persönliches Scheitern und/oder Scheitern als Filmemacher ist dabei immer wieder präsent in den Prozess des Films eingearbeitet und somit gleichzeitig Teil des ,Making-of self‘. Besonders McElwee nutzt die Parallelität und Verknüpfung von Mensch und Maschine, autobiografischem Kameramann und Kamera, prozessualer Identitätsbildung und Filmdramaturgie, um seine Rolle im Film mit der technischen Filmrolle zu verbinden. Beispielsweise schreibt er im Off-Kommentar das Hängenbleiben einer Filmrolle dem Unwillen seines gefilmten Vaters zu, der nichts von der erwählten Profession seines Sohnes hält, oder unterwirft sich während seiner Hochzeitsverkündung vor versammelter Familie dem leeren Akku der Kamera, indem er einen neuen Akku suchen geht, anstatt die Glückwünsche entgegenzunehmen.

Die entsprechenden Filme betreiben zugleich eine Bild-, Situations- und Dokumentarfilmanalyse, gestiftet durch die mediale Möglichkeit zur Fremdwahrnehmung der eigenen Arbeit und Person. Damit wird eine Narrativierung und Verortung der Protagonisten und ihrer Geschichte erreicht; ihre autobiografischen Dokumentarfilme fungieren als beispielhafte ,Making-of selves‘, als mediale Entwürfe der eigenen Identität. Dabei stellt die Prozessualitiät der Filme immer auch den prozessualen Charakter der Identitätskonstruktion aus und macht kenntlich, dass die Filme selbst nur eine mögliche Version einer Identität abbilden.

Die Frage nach der Authentizität des Selbst ist mit der Einführung des Performance-Begriffs auch im Dokumentarfilmdiskurs tendenziell hinfällig geworden. Wie bereits in der Biografieforschung thematisiert, nimmt man von der Vorstellung eines authentischen Selbstzugunsten von sich fortwährend verändernden Variationen des eigenen Selbst und dessen Erzählung Abstand. Pohls neurowissenschaftliche Analyse der Beschaffenheit des autobiografischen Gedächtnisses und Welzers kulturwissenschaftliche Ausführungen betrachten das (autobiografische) Gedächtnis und Erinnern als kontinuierlichen Raum des Abgleiches und Verschiebens, da Erinnerungen bereits im Generierungsmoment immer in den Kontext der schon vorhandenen Erinnerungen aufgenommen, durch diesen konnotiert und verortet werden (vgl. Pohl 62-130, Welzer 160-163). Diese konstitutive Flexibilität von Erinnerungsnarration und Selbstkonzeptualisierung wird durch das filmische Verfahren des Schnitts im autobiografischen Dokumentarfilm allegorisch umgesetzt.

Agnès Varda spielt in Les plages d’Agnès (2009) mit der performativen Dimension von Identität, indem sie ihre eigene Person und Geschichte mit (unnatürlichen) Requisiten nachstellt, sie ‚reenacted‘ sich selbst. Die innerhalb des Films ausgestellte Konstruktion des eigenen Ichs und seiner Sozialisation schaffen gleichzeitig eine humorvolle Distanz und eine aussagekräftige Reflexivität der künstlerisch und künstlich geschaffenen Selbstentwürfe. Auch Werner Herzog lässt durch eine Intervention als ‚Herausgeber’ in seinem Dokumentarfilm Grizzly Man (2005) ein Making-of der Autobiografie des verstorbenen Timothy Treadwell entstehen, der in Form von Videotagebüchern sein Leben unter Bären in der Wildnis Kanadas dokumentierte. In seinem Film kommentiert Herzog die Aufnahmen Treadwells und sortiert sie im Schnitt zu seiner eigenen Version von Treadwells Identität. Eakin schreibt in seinen Ausführungen zum Konzept des ,Making-of self’ passend: „[T]here are many stories of self to tell, and more than one self to tell them.“ (xi).

Auch in Filmen wie Vadim Jendreykos Die Frau mit den 5 Elefanten (2009) und Anna Ditges Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin (2007) spielt dieser Aspekt der editierten Autobiografie eine Rolle, da der Filmemacher und die Filmemacherin das Leben der Schriftstellerinnen Svetlana Geier und Hilde Domin in sehr nahen Portraits innerhalb und außerhalb privater Räume einfangen. Das Making-of ihrer Literatur wird gleichzeitig als ein Making-of ihres Lebens und ihrer Person inszeniert. Hier wie in den anderen angeführten autobiografischen Dokumentarfilmen wird der Aspekt der Inszenierung betont und somit offengelegt, dass es immer auch eines Making-ofs des Selbst bedarf, um Autobiografie denken und erfahren zu können.

Quellen

Bial, Henry: „Part 1. What Is Performance Studies?” In: Henry Bial (Hg.): The Performance Studies Reader. Oxon 2007, S. 5f.

Bruzzi, Stella: New Documentary. Oxon 2006.

Eakin, Paul John: How Our Lives Become Stories: Making Selves. Ithaca / London 1999.

Die Frau mit den 5 Elefanten. Schweiz/Deutschland 2009, Regie: Vadim Jendreyko.

Grizzly Man. USA 2005, Regie: Werner Herzog.

Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin. Deutschland 2007, Regie: Anna Ditges.

Kauppert, Michael: Erfahrung und Erzählung. Zur Topologie des Wissens. Wiesbaden 2010.

Les plages d’Agnès. Frankreich 2009, Regie: Agnès Varda.

Nobody’s Business. USA 1996, Regie: Alan Berliner.

Pohl, Rüdiger: Das autobiografische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart 2007.

Time Indefinite. USA 1993, Regie: Ross McElwee.

Welzer, Harald: „Gedächtnis und Erinnerung” In: Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen, Bd. 3. Stuttgart 2004, S. 155-174.