Mit seinem Aufsatz The Philosophy of Composition (1846) liefert der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe einen Blick in seine Schreibwerkstatt und skizziert dabei exemplarisch ein Making-of seines Werks The Raven (1845). Diese Ballade schildert die Begegnung eines um seine geliebte Lenore trauernden lyrischen Ichs mit einem mysteriösen Raben, der immer wieder das Wort „Nevermore“ krächzt. Gefangen in seinen Erinnerungen und seiner unbändigen Trauer, wird das namenlose Subjekt schließlich vom unbarmherzigen Refrain des Tiers, das möglicherweise ein Bote aus dem Jenseits ist, in den Wahnsinn getrieben.
Poe greift The Raven als seinen bekanntesten, nach seiner Erstveröffentlichung schnell in zahlreichen Publikationen wieder abgedruckten Text auf, um im Aufsatz zunächst knapp einige zentrale Punkte seiner Poetik (beispielsweise die Wichtigkeit der Kurzform) darzulegen, die sich später in The Poetic Principle (posth. 1850) ausführlicher dargelegt finden. Den Großteil des Textes verwendet Poe allerdings darauf, die Genese von The Raven nachzuzeichnen und gegen ein Bild des dichterischen Prozesses als gänzlich im Zeichen der spontanen Eingebung stehend Stellung zu beziehen. Poe kritisiert (ungenannt bleibende) Dichterkollegen, die dieses irreführende Bild vom poetischen Schreiben vermittelten: „[They] prefer having it understood that they compose by species of fine frenzy – an ecstatic intuition – and would positively shudder at letting the public take a peek behind the scenes, […] at the wheels and pinions – the tackle for scene-shifting – the step-ladders and demon-traps – the cock‘s feathers, the red paint and the black patches, which, in ninety-nine cases out of the hundred, constitute the properties of literary histrio.“ (481)
Laut Poe handelt es sich beim Schreiben vielmehr um einen streng rationalisierbaren Vorgang, der eine Abfolge logischer Schritte impliziere, an die sich der Autor halten müsse, um den maximalen Effekt beim Leser zu erzielen. So stellten weder der Refrain „Nevermore“ noch die Wahl der Szenerie oder die ,fabula‘ von The Raven das Resultat einer Eingebung dar, sondern resultierten aus einer Reihenfolge von Schritten, deren Darlegung bei Poe schon beinahe ‚How to‘-Charakter trägt. Der Autor frage sich zunächst, welchen Effekt er im Sinn hat, welcher Umfang diesem angemessen ist, welcher Gestus und welche Stimmung das Werk kennzeichnen sollen und welcher poetische Kniff („some pivot upon which the whole structure might turn“, 484) der Vermittlung des angestrebten Grundtons schließlich am besten eignen. Dass Poe ernstlich behauptet, selbst zum Wort „Nevermore“ allein durch Reflexion über den von ihm intendierten Effekt sowie die Frage gelangt zu sein, welche Klangstruktur diesen am besten umsetzen könne („the long o as the most sonorous vowel, in connection with r as the most producible consonant“, 485), hat sowohl unter Zeitgenossen als auch späteren Poe-Exegeten den Verdacht genährt, Poes Text sei zwar nicht gerade als Faking-of, aber zumindest als satirischer ‚hoax‘ zu bewerten, mit dem Poe Autoren auf die Schippe nehme, die die Selbstinszenierung als Originalgenie kultivierten. Immerhin begibt sich Poe als Verfechter einer poetologischen ‚ratiocination‘ selbst in die Pose seines genialen Detektivs Dupin, der als Vorläufer von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes den literarischen Prototypen des ‚armchair detective‘ darstellt und den Fall allein auf Grundlage seiner phänomenalen logischen Fähigkeiten zu lösen imstande ist, ohne das Haus verlassen oder Verdächtige befragen zu müssen.
Gegen die These vom ‚hoax‘ spricht allerdings, dass The Philosophy of Composition durchaus Elemente von Poes Kunstverständnis beinhaltet, u.a. die zentrale These, Originalität erwachse nicht aus genialischer Intuition, sondern aus harter Arbeit (vgl. 488). Allerdings verschleiert auch The Philosophy of Composition zahlreiche Aspekte der Werkentstehung und kennt etwa die Möglichkeit des Scheiterns bzw. des später korrigierten Irrwegs genauso wenig wie den Zufall. Das vermittelte Bild des künstlerischen Prozesses gerät damit ebenso linear und absolut wie dasjenige Verständnis der Dichtkunst, das Poe unter seinen Kollegen kritisiert. Offen bleibt darüber hinaus auch die Frage, weshalb der von Poe entworfene, ganz vom Musenkuss abgekoppelte dichterische Vorgang bei exakter Befolgung der einzelnen Schritte nicht jedes Mal im gleichen Text resultiert (vgl. Lodge 70).